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April 25 2024

Rüdiger Safranski stellt sein Buch „Kafka. Um sein Leben schreiben“ vor

„Da war ein Genie unterwegs“

Rüdiger Safranski bei der Frühlingslese 2024.
Rüdiger Safranski bei der Frühlingslese 2024.

Von Sigurd Schwager

Große Geister zu porträtieren, kundig und verständlich zugleich, ist schon ein halbes Leben lang Rüdiger Safranskis Passion. Er frönt ihr immer wieder mit anspruchsvollen Büchern, die in schöner Regelmäßigkeit eine breite Leserschaft erreichen, vielfach übersetzt werden und sogar den Papst beeindrucken. Den Literaturpapst. Von Marcel Reich-Ranicki stammt das wohl schillerndste Lob für die Safranski-Biografien: Selbige seien beinahe so lesenswert wie die Werke jener Autoren, mit denen sie sich befassten.

Auch Jens Bisky, selbst im Biografischen erfahren, greift für den philosophischen Schriftsteller ins obere Regal: Safranski habe die literarische Biografie salonfähig und die Betriebsgeheimnisse der Philosophie öffentlich gemacht. Der von Preisen gesäumte Weg des Autors beginnt vor 40 Jahren. Damals erscheint sein erstes Buch, in welchem er das Leben des skeptischen Phantasten E.T.A. Hoffmann erkundet. Ein Standardwerk bis heute, das vor zwei Jahren zum 200. Todestag des Dichters neu aufgelegt und um ein Nachwort erweitert worden ist.

Wenn also jetzt in Erwartung von Rüdiger Safranski das Erfurter Frühlingslese-Publikum in großer Zahl die Bach‘sche Hauskirche am Anger betritt, dann könnte es gut sein, dass die eine oder der andere begleitet wird von erhellenden Erinnerungen an den schwarzen Romantiker. Oder auch an Hölderlin, Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche und Goethe und Schiller sowieso. All die eigenen Lese-Erfahrungen sorgen schon vorab für Gewissheit, was dieser Abend in jedem Fall sein wird; das Gegenteil von langweilig und langatmig, zugleich frei von jeglicher Effekthascherei. Der herzliche Begrüßungsbeifall für den Meisterbiografen der Dichter und Denker bekräftigt das akustisch.

Sein jüngstes, vergleichsweise schmales Buch, das ausdrücklich keine klassische Biografie sein will, gilt einem Wegbereiter der literarischen Moderne, dem vor 100 Jahren in Wien gestorbenen Franz Kafka. Über dessen Leben und makellose Prosa sagt der Frühlingslese-Gast eingangs den lapidar schönen Satz: „Da war ein Genie unterwegs.“ Kafka sei der am meisten kommentierte Autor des 20. Jahrhunderts, sein Ruhm allerdings erst nach dem frühen Tod ins Unermessliche gewachsen.    

Rüdiger Safranski erzählt in der Kaufmannskirche von seiner ersten Begegnung mit einem Kafka-Text. Dafür blickt der 79jährige weit zurück bis in das Jahr 1963. Am Gymnasium in Rottweil sei damals ein sehr guter Lehrer gewesen, der mit den Schülern im Kurs Kafkas „Urteil“ las. Er habe dann vor dem Abitur als Hausarbeit das Thema „Kafka. Vor dem Gesetz - Die Parabel seiner Existenz“ gewählt. „Kafka“, bilanziert Safranski, „war für mich das Portal zur Literatur. Und er hat mich seitdem nie mehr losgelassen.“

Bewundernd spricht der Kafka-Kenner in diesem Zusammenhang über Reiner Stachs monumentale dreibändige Biografie: „Ein großartiges Werk!“ Er selbst habe nicht die Absicht verfolgt, noch eine weitere Kafka-Biografie zu schreiben. Sein Buch verfolge vielmehr eine einzige Spur im Leben dieses Mannes, die eigentlich naheliegende: das Schreiben und den Kampf darum.

Safranski schlägt sein Buch „Kafka. Um sein Leben schreiben“ auf und liest aus dem ersten Kapitel die zum Titel führende Schlüsselszene: „Am 14. August 1913 schreibt Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer: ‚Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und ich kann nichts anderes sein.‘ Damit will er Felice warnen: Schreiben ist für ihn keine schöne Nebensache, kein Ausgleich für die Belastungen im Berufsgeschäft. Er interessiert sich nicht für Literatur, er ist Literatur ganz und gar. Felice soll das endlich begreifen, andernfalls hält sie sich an jemandem fest, den es gar nicht gibt...“

Dann blättert der Autor vor zum dritten Kapitel, das dem Erfurter Publikum gleich noch eine Hauch von Thüringen bietet. Mit seinem Freund Max Brod reist Kafka im Sommer 1912 für ein paar Tage nach Weimar, wo er sich sogleich ein wenig in Margarethe Kirchner, die Tochter des Kastellans vom Goethe-Haus, verliebt. Wer mehr über den gut dokumentierten Aufenthalt in Weimar erfahren möchte, muss später in Kafkas Reisetagebuch schauen. Denn Safranski verlässt in seinem Buch bereits nach wenigen Zeilen Thüringen und die Margarethe-Episode, um sich einer anderen folgenreichen Beziehung zu widmen, die am 13. August 1912 in der Wohnung der Familie Brod ihren Anfang nimmt.

Franz Kafka begegnet hier dem Frl. Felice Bauer. Man verabredet eine gemeinsame Palästina-Reise, für die man sich jedoch zuvor brieflich noch besser kennenlernen müsse. „Das ist der Beginn einer langen Geschichte“, liest Safranski, „und es ist der Augenblick eines schöpferischen Durchbruchs, wie ihn Kafka bisher noch nicht erlebt hatte. Zwei Tage nach dem ersten Brief an Felice vom 20. September 1912 schreibt er in einer Nacht jene berühmte Erzählung, der er den Titel gibt: ‚Das Urteil‘."

Dann zitiert Safranski, was Kafka über diese Nacht anderntags in seinem Tagebuch notiert und würdigt den Eintrag als selten genaue Beschreibung des schöpferischen Augenblicks bei völligem Vergessen des Körpers. Das Schreiben, so der Autor, sei hier ein Geschehen, kein Machen.

Weil Safranski in Erfurt das gut und klar geschriebene Wort klug mit freier Rede verschränkt, hält er immer das Interesse wach und die Spannung hoch. Herz und Geist erwärmender Höhepunkt im kühlen Kirchenraum ist dabei sein finales Vortragen einer Buchszene mit Franz Kafka und dessen letzter Gefährtin Dora Diamant. Der Berichterstatter zitiert gern eine etwas längere Passage, weil in ihr Safranskis Gespür kenntlich wird, im Kleinen, im Anekdotischen ein ganzes Leben zu spiegeln:
„Bei den Spaziergängen im Steglitzer Park trafen Kafka und Dora einmal ein weinendes Mädchen, das seine Puppe verloren hatte. Kafka erfindet, um das Mädchen zu trösten, sogleich eine kleine Geschichte. Die Puppe sei, erklärt er, nur auf Reisen gegangen und habe ihm einen Brief geschickt. Das Mädchen fragt misstrauisch, ob er denn den Brief dabeihabe. Nein, antwortet er, aber er werde ihn morgen mitbringen. Kafka machte sich nun, so erzählt Dora, ‚mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen (...). Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor der Enttäuschung bewahrt und wirklich zufriedengestellt werden musste. Die Lüge musste also durch die Wahrheit der Fiktion in Wahrheit verwandelt werden.‘ So ließ sich Kafka einiges einfallen und schrieb es liebevoll auf und trug den Brief anderntags zu dem kleinen Mädchen, das sehnsüchtig auf eine Nachricht der Puppe wartete (...). Kafka spann also die Geschichte fort, dachte sich einige Abenteuer aus und trug die Briefe zu dem Mädchen, das sich regelmäßig im Park einfand.“

Schließlich kommt Safranski lesend zum Ende des mehrwöchigen Spiels: „Kafka verfiel dann auf etwas das ihm im Leben selbst nie gelungen war: Er ließ die Puppe heiraten und schilderte dann das Glück der Jungverheirateten in allen Einzelheiten. Dieser letzte Brief endet mit dem Satz: ‚Du wirst selbst einsehen, dass wir in Zukunft auf ein Wiedersehen verzichten müssen.‘ Dora kommentierte diese anmutige Episode mit dem klugen Satz: ‚Franz hatte den kleinen Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst, durch das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte, um Ordnung in die Welt zu bringen.‘“

Für einem Moment noch lauscht das Erfurter Publikum gefesselt dem Klang der Worte hinterher. Dann setzt langer Beifall ein. Rüdiger Safranski verneigt sich. „Schön, dass Sie wieder einmal bei uns waren“, dankt Programmchefin Monika Rettig und lädt nach starkem Kafka-Buchabend im Frühling zur Kafka-Revue im Sommer mit Anne-Dore Krohn und Denis Scheck ein.

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